„Benannt nach ihren Namen“

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Großeltern von Grażyna Olton

Nach der ersten Veranstaltung im Rahmen der Gesprächsreiche „Zeuge – Geschichte – Erinnerung” mit Witold Pileckis Sohn Andrzej Pilecki, präsentiert das Pilecki-Institut nun ein neues Projekt, welches sich u.a. der Oral history bedient, um neue Tiefen und Dimensionen des geschichtlichen Verständnisses zu erklimmen, zugleich aber auch Versäumnisse und weiße Flecken der Geschichtsschreibung mit Farbe auszufüllen.

„In erster Linie werden die Nachfahren von Menschen zu Wort kommen, die während des Zweiten Weltkriegs ihren jüdischen Mitbürgern halfen und deren Leben wie auch der Erinnerung an ihre beispiellosen Heldentaten im Zuge dessen ein brutales Ende gesetzt wurde. In unseren beiden Beiträgen stellen wir zunächst Grażyna Olton vor, die über ihre Großeltern, Leon und Marianna Marianna Lubkiewicz sowie ihren Sohn Stefan, erzählt“, sagt Patryk Szostak, Pressesprecher der Stiftung. Die Großeltern von Grażyna führten eine Bäckerei und halfen den sich in der Umgebung versteckenden Juden, indem sie Ihnen regelmäßig kostenlos Brot anboten. Schließlich wurden sie festgenommen, stundenlang verhört, gefoltert und von deutschen NS-Funktionären erschossen.

In der zweiten Ausgabe von „Benannt nach ihren Namen“ spricht Franciszek Marian Filipek tief bewegt über die Geschichte seiner Mutter . Sie versteckte zwei Familien bei sich, insgesamt 8 Personen, in ihrem Dachboden. Eines Tages erschienen NS-Funktionäre und nahmen sie alle mit – sie kamen nie wieder zurück.

Auf diesem Wege soll im Übrigen auch an die linksemanzipatorischen Traditionen der Oral History angeknüpft werden, denn diese verfolgte, wie Dr. Piotr Filipkowski in seiner jüngst in Deutschland veröffentlichten Monographie „Oral History and the War” dokumentiert, über weite Strecken hinweg emanzipatorische Ziele. „Es ging darum, den „einfachen Menschen”, den Ordinary People, eine Stimme zu verleihen und den Historikerbetrieb nicht zu einer reinen Eliteangelegenheit verkommen zu lassen“, sagt Hanna Radziejowska von der Stiftung.   Bei „Benannt nach ihrem Namen” handelt es sich dabei nicht nur um ein rein geschichtswissenschaftliches Unterfangen, sondern auch um einen Versuch, intergenerationelle Überlieferungsketten von Traumata zu stoppen. Denn in dem Projekt kommen die Nachfahren nicht nur öffentlich zum ersten Mal zur Sprache, sondern häufig sprechen sie über ihre Erinnerungen zum ersten Mal überhaupt. Es geht also auch um Genesung – individuell wie auch kollektiv.

Woher rühren diese Traumata? Um dies zu begreifen, ist ein ausgeprägtes Verständnis der politisch-institutionellen Rahmenbedingungen des Besatzungsregimes des Dritten Reichs vonnöten. Denn das dieses als der Goldstandard des absolut Bösen gilt, ist heute nicht mehr umstritten, aber die zum Teil sehr unterschiedlichen Herrschaftsformen in den okkupierten Gebieten sind nicht weitläufig im allgemeinen Bewußtsein verankert. Timothy Snyder beschreibt diese in „Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann” anhand von drei Schicksalen, drei historischen Figuren: Victor Klemperer, Anne Frank und Emmanuel Ringelblum. „Ihr jeweiliges Schicksal spiegelt die unterschiedlichen rechtlichen Strukturen in Deutschland, in den besetzten Niederlanden und im besetzten Polen während des Krieges wider”, schreibt Snyder.

Klemperer war bekanntermaßen der Autor geradezu akribisch durchführter Sprachanalysen des NS-Regimes, Anna Frank die Autorin des meistgelesenen Tagebuchs über den Holocaust und Emmanuel Ringelblum ein Historiker, welcher, im Warschauer Ghetto verbleibend und um sein Leben ringend, ein Untergrundarchiv schuf, das bis heute zu den wichtigsten historischen Quellen zählt. Drei große Namen, drei Leben, drei Gefangene, drei unterschiedliche Schicksale: „Klemperer überlebte, genauso wie derjenige, der sich um ihn kümmerte; Anne Frank starb, doch die Leute, die sie zu verstecken versucht hatten, überlebten; Ringelblum wurde zusammen mit mehreren anderen, die ihm geholfen hatten, erschossen”.  Als hauptentscheidend sah Snyder die Kategorie der Staatsangehörigkeit an, denn selbst nach den Nürnberger Gesetzen konnte man auf diesem Wege von den verbleibenden, wenn gar auch äußerst mageren Rechten Gebrauch machen. Im Falle Ringelblums war all dies nicht möglich: er starb und mit ihm die Menschen, die ihm vorher Unterschlupf oder materielle Hilfe offerierten. Im vom deutschen Besatzungsregime okkupierten Polen musste man selbst für eine Scheibe Brot, die man einem Juden rüberreichte, mit dem eigenen Leben und nicht selten dem des ganzen Dorfs bezahlen. In Holland konnte man Menschen bei sich verstecken und dennoch relativ glimpflich davon kommen. Darin liegt der essenzielle Unterschied.

Deswegen ist ein Projekt wie „Benannt nach ihren Namen” von fundamentaler Bedeutung. Traumatische und zugleich beispiellose Heldentaten rücken so ans Tageslicht, können wieder zu einem Teil der jeweiligen lokalen kollektiven Erinnerung werden. Menschen, die wie die Großeltern von Grażyna Olten, die wir vorstellen, eine Bäckerei führten, den sich in ihrer Umgebung versteckenden Juden kostenlos Brot anboten und später dann selber den höchsten Preis dafür zahlten. Leon, Marianna und Stefan Lubkiewicz bekämpften das Böse in ihrem Hier und Jetzt, fast schon den späteren Intuitionen der sogennanten Nouvoux Philosophes folgend, statt in abstrakten eskapistischen Luftschlössern herumzuirren, die angeblich irgendwann aus allen Menschen Engel machen sollen. Es ist die „einfache Tat“, die gerade ihrer vermeintlichen „Einfachheit“ wegen, so schwer zu fassen ist für uns alle. Deswegen muss sie vor Geschichtsvergessenheit bewahrt und als Blaupause für spätere Generationen angesehen werden.

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