
Berlin. Mehr denn je schaut die Diakonie auf Menschen am Rand. Die Diakoniedirektoren der Großstädte Deutschlands kamen in Wien zum Erfahrungsaustausch zusammen.
Von Frank Bürger
Austausch ist wichtig. Das zeigte sich auch bei einer Tagung der Diakoniedirektoren der Großstädte Deutschlands in Wien. Darunter auch der Karlsruher Diakoniedirektor Wolfgang Stoll. Denn die Tage werden kürzer und kälter. Und die Obdachlosen geraten hier in den Fokus.
Am 1. November beginnt in vielen Städten und Gemeinden in Deutschland die Kältehilfe für obdachlose Menschen. Die Diakonie stellt bundesweit hunderte zusätzliche Übernachtungs- und Aufenthaltsplätze zur Verfügung. Zum Start der Kältehilfe fordert die Diakonie Deutschland, Hilfsangebote zu finanzieren, damit Menschen ihre Wohnung nicht verlieren.
„Wenn es kalt wird, wird es für wohnungslose Menschen, die auf der Straße leben, mitunter lebensgefährlich“, sagte Elke Ronneberger, Bundesvorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. „Umso wichtiger ist es, dass es ausreichend viele Übernachtungs- und Aufenthaltsplätze gibt, die Schutz vor Kälte bieten. Städte und Gemeinden sind hier gefordert, genügend warme Orte bereitzustellen und zu finanzieren.“
Ronneberger betonte, dass der beste Schutz vor Kälte die eigene Wohnung bleibe. Deshalb müsse die Prävention von Wohnungsverlusten stärker in den Fokus rücken. „Wir brauchen flächendeckend zentrale Fachstellen, an die sich Menschen bei Mietrückständen oder Kündigungen wenden können. Frühzeitige Beratung kann verhindern, dass Menschen ihre Wohnung verlieren“, so Ronneberger.
Die Diakonie weist darauf hin, dass Prävention nicht nur sozial notwendig, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll sei. „Jede Wohnung, die erhalten werden kann, ist für Städte und Gemeinden günstiger als eine Unterbringung in einer Wohnungslosenunterkunft“, so die Sozialvorständin weiter.
Nach dem Wohnungslosenbericht 2024 leben in Deutschland aktuell rund 47.300 Menschen auf der Straße oder in Behelfsunterkünften. Besonders im Winter sind sie der Kälte schutzlos ausgeliefert. Immer wieder kommt es zu tragischen Todesfällen – obdachlose Menschen erfrieren unter Brücken, auf Parkbänken oder in verlassenen Gebäuden.
So folgt von der Diakonie Deutschland auch starke Kritik an der Bundesregierung. Der Entwurf des Bundeshaushalts 2026 ist eine vertane Chance. Er sendet bislang kein klares Signal zur Zukunftssicherung des Sozialstaates – und schwächt damit genau das Fundament, dass unser Land in Krisenzeiten trägt. Gerade in Zeiten globaler Unsicherheiten und gesellschaftlicher Umbrüche brauche es einen starken, verlässlichen Sozialstaat: Innere, äußere und soziale Sicherheit gehören untrennbar zusammen. Wer nur in Verteidigung und Brücken investiert, vernachlässigt das soziale Fundament unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Wir brauchen Investitionen in soziale Sicherheit und Teilhabe. Nur ein starker Sozialstaat kann Integration in Arbeit fördern, Armut wirksam bekämpfen, Pflege sichern, politischem Extremismus begegnen und die sozial-ökologische Transformation gestalten. Investitionen in Engagement und Chancengerechtigkeit sind keine Kostenfaktoren – sie sind die Basis für Wohlstand, sozialen Frieden und eine stabile Demokratie.
Besonders alarmierend ist, dass die Bundesregierung im Investitionspaket die gemeinnützige Wohlfahrtspflege übergangen hat. Dabei leisten hier 2,3 Mio. Beschäftigte und mehr als 3 Mio. Engagierte täglich unverzichtbare Arbeit für die Gesellschaft. Wer diese tragende Säule schwächt, gefährdet die soziale Infrastruktur und die Solidarität im Land.
Statt kurzfristige Einsparziele braucht es eine Politik mit Weitblick. Denn Kürzungen heute bedeuten weitaus höhere Kosten morgen – sozial wie ökonomisch. Wer auf Sparpolitik setzt, gefährdet das Sozialstaatsversprechen und untergräbt die Zuversicht der Menschen. Wer hingegen in den Sozialstaat investiert, gestaltet Zukunft und schafft Vertrauen.
Die Diakonie Deutschland fordert deshalb: Die Bundesregierung sollte mit dem Haushalt 2026 die Chance ergreifen und in den Sozialstaat investieren.
Der Entwurf der Bundesregierung für den Bundeshaushalt 2026 muss an entscheidenden Stellen nachgebessert werden. Die folgende Auflistung zeigt, bei welchen konkreten Handlungsfeldern aus Sicht der Diakonie Deutschland Verbesserungspotential besteht.
Deutschland und Europa stehen inmitten großer Herausforderungen: Der Krieg in der Ukraine geht weiter, globale Probleme wie der Klimawandel sind ungelöst und in vielen Demokratien sind autoritäre Parteien auf dem Vormarsch. Eine nicht abklingende Krisenstimmung prägt die politische Debatte in Deutschland und beschert populistischen Kräften einen nie gekannten Zulauf. Verstärkt wird die Verunsicherung vieler Menschen durch eine schleichende wirtschaftliche Rezession, die schon seit Jahren auch an der bisherigen Finanzierung des Sozialstaats rüttelt.
Die freie Wohlfahrt – und mit ihr die Diakonie – steht nicht außerhalb dieser Umbrüche. Im Gegenteil: Sie wird voll erfasst von komplexen Problemen wie der alternden Gesellschaft, dem damit verbundenen Arbeitskräftemangel und steigenden Bedarfen an Gesundheits- und Pflegeleistungen oder den Chancen und Risiken disruptiver Technologien wie Künstlicher Intelligenz (KI). Dabei steht die Diakonie in einer herausfordernden Doppelrolle: Sie ist nicht nur selbst betroffen vom rasanten Wandel, sondern für Millionen Menschen auch eine Garantin von (sozialer) Sicherheit, gerade in verunsichernden Zeiten. Mit ihrer professionellen Erfahrung und ihren vielen Angeboten im ganzen Land kann sie zudem eine für die Politik gewinnbringende Rolle bei der notwendigen Justierung eines zukunftsfesten Sozialstaats spielen.
Die Diakonie will ein Zeichen der Hoffnung und ein Motor positiven Wandels sein. Dazu steht sie in einem engen Dialog – mit den Menschen im Land und mit der Politik. Dadurch leistet sie einen unverzichtbaren Beitrag zur Stabilisierung einer offenen und teilhabeorientierten Gesellschaft. Und zu einer konstruktiven demokratischen Politik für alle Menschen, ganz gleich welcher Herkunft, welchen Alters, Geschlechts oder Einkommens. Insbesondere verschafft sie denen Gehör, die sonst nicht gehört werden, weil ihnen die Mittel und die Lobby fehlen, um sich bemerkbar zu machen. Damit tritt die Diakonie täglich ein für eine Gesellschaft der Vielfalt, die zwar längst Realität ist, aber keineswegs selbstverständlich. Der gesellschaftliche Wandel findet auch in der Diakonie statt und fordert sie heraus, ihre Arbeitsweise und Strukturen zu überprüfen und an die neuen Realitäten anzugleichen. Indem sie ihre Umbrüche als Chance begreift und gestaltet, prägt sie eine positive Grundstimmung im Land mit.
Ein wichtiges Beispiel dafür ist die Digitalisierung mit ihren enormen Potenzialen, die Arbeit der Diakonie zu verbessern, effizienter zu gestalten und noch dynamischer an die veränderten Lebensbedingungen ihrer Klient*innen anzupassen. Damit setzt die Diakonie auch die neuen digitalen Standards im Sozialstaat mit – und wendet sich mit ihrem verantwortungsvollen Einsatz neuer Technologien wie KI gegen deren Einsatz zur Ausgrenzung, Manipulation oder Abwertung von Menschen.
Als Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirchen in Deutschland versteht sich die Diakonie als kraftvolle Stimme für einen gerechten und demokratischen Staat, der allen Menschen gute Lebensperspektiven eröffnet und sie zur Teilhabe einlädt. Dazu nutzt sie ihren Spielraum als parteipolitisch unabhängige evangelische Organisation, die mit ihrer professionellen sozialen Arbeit fest im Alltag der Menschen verankert ist. Die Diakonie erhebt ihre Stimme gegen Ungerechtigkeit, ohne sich von kurzfristigen (Wahl-)Trends und politischen Stimmungen leiten zu lassen. So darf etwa der Klimawandel mit seinen enormen ökologischen und sozialen Folgen nicht aus dem Blickfeld von Politik und Öffentlichkeit verschwinden, weil andere Probleme wie das Wirtschaftswachstum oder die innere und äußere Sicherheit in den Vordergrund drängen. Statt einer Entweder-oder-Politik ist ein Sowohl-als-auch gefragt. So müssen die innere, äußere und soziale Sicherheit zusammengedacht werden, um allen Menschen gerechte Lebens- und Arbeitsperspektiven zu eröffnen, den Klimawandel zu begrenzen und die natürlichen Lebensgrundlagen auch für die folgenden Generationen zu bewahren.
Die Aufgaben, die seit jeher durch die Diakonie übernommen werden, haben nichts von ihrer Relevanz verloren. Die alten Fragen von Armut, Teilhabe, Demokratie oder Gerechtigkeit müssen zeitgemäß beantwortet werden, auch innerhalb der Diakonie selbst. Bei diesen Veränderungen lässt sich die Diakonie von ihren Werten und ihrer Professionalität leiten, die sie in den Dienst der Menschen stellt, die bei ihr Unterstützung und Orientierung suchen. Damit stärkt die Diakonie in ihrer täglichen Arbeit das Vertrauen in einen gelingenden Wandel und stärkt die Zuversicht.
Die nachfolgenden strategischen Ziele sind Richtschnur und Orientierung für unsere Arbeit der kommenden drei Jahre. Sie fokussieren sich auf gute Rahmenbedingungen für diakonisches Handeln, um unseren Dienst an den Menschen auch in einer bewegten Zeit fortsetzen zu können. Zugleich bringen sie unser Werteverständnis in zentralen Feldern der Sozialpolitik zum Ausdruck und unterstreichen unseren festen Willen, zu einem gelingenden Wandel beizutragen, gemäß dem biblischen Wort: „Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1. Thessalonicher 5,21; Jahreslosung 2025).
Quelle: Diakonie Deutschland
