
Berlin. Hier einige Trends zum Weg der Kirche in das Jahr 2044. Zur Verfügung stellte den Deutsch-Polnischen Nachrichten diese Prälat i. R. Prof. Dr. Traugott Schächtele. Er ist Autor unseres Magazins
Von Traugott Schächtele
Die Pfarrer des Kirchenkreises Spandau fahren unter Leitung von Superintendent Florian Kunz in die badische Landeskirche. Es ist die Heimat von Prälat i. R. Prof. Dr. Traugott Schächtele. Hier nun einige Gedanken zu dem Thema „Kirche auf dem Weg in das Jahr 2044“.
Kirche 2044 – Es bleibt alles anders
Mögliche Trends
Trend 1: Eine neue ökumenische Landkarte wird entstehen
Eine große „Welteinheitskirche“ wird nicht kommen. Auch nicht als Folge eines wieder intensivierten ökumenischen Prozesses. Im Verlauf der weiteren Entwicklung werden die evangelischen Kirchen manches an Ritualen und Bräuchen, die im reformatorischen Disput vorschnell aufgegeben wurden, wieder für sich zurückgewinnen oder neue entwickeln.
Ein Ergebnis auf dem Weg zur Kirche in Jahr 2044 wird dies sein: Eine neue ökumenische Landkarte wird entstehen. Kirchen arbeiten mit anderen Kirchen, anderen Religionen, aber auch weltlichen Organisationen eng zusammen. Gleichzeitig entstehen neue kirchliche Bündnisse: Heute noch sehr verschieden strukturierte Kirchen etwa im evangelischen Bereich schließen sich zusammen. Konfessionen werden zunehmend als verbindende Traditionen wahrgenommen. Zugleich werden an den Rändern Gruppen mit zu wenig Flexibilität abbrechen und sich zu Sondergemeinschaften, Sekten oder Minoritätskirchen entwickeln, zeitweise durchaus mit begrenztem Erfolg und relativer Macht, aber mit Defiziten in einer kommunikationsfähigen und Weltverantwortung übernehmenden Theologie
Trend 2: Exemplarische Strukturen lösen flächendeckende ab
Innerhalb der verschiedenen Kirchen wird der Trend zur Differenzierung der Verfasstheit, der Strukturen, Arbeitsformen und Angebote zunehmen, ohne dass deswegen die Gemeinde als Grundform kirchlicher Existenz in Frage gestellt wird.
Allerdings werden sich die Gemeindeformen weiter auffächern (Zielgruppengemeinden, Personalgemeinden, Schwerpunktgemeinden, Internetgemeinden etc.).
Trend 3: Kirchen werden künftig viel stärker als heute ehrenamtlich getragen
Neben den an einer Hochschule ausgebildeten Personen werden zunehmend Menschen pastorale Aufgaben übernehmen, die dazu in anderer Weise aus– und fortgebildet werden. Es wird zunehmend Gemeinden ohne Hauptamtliche geben, in denen Ehrenamtliche wesentliche Aufgaben selbständig wahrnehmen. Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakoninnen und Diakone, Kantorinnen und Kantoren sowie andere hauptberuflich in der Kirche arbeitende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden deshalb nicht weniger wichtig. Ihre Rolle wird sich aber ändern und weiterentwickeln. Auf sie werden große Herausforderungen in der Verantwortung für die Begleitung von ehrenamtlich Mitarbeitenden, deren Bildung in theologischen Kernkompetenzen und deren Unterstützung und Beratung zukommen.
Trend 4: Abgestufte Formen der Zugehörigkeit könnten möglich werden
Es wird womöglich Formen verschiedener Abstufungen der Zugehörigkeit zur Kirche geben: Vollmitglieder, Sympathisanten, Gäste etc. Dies stellt die zentrale Bedeutung der Taufe nicht in Frage. Es beschreibt eher Wege, die in unterschiedlicher Weise auf die Taufe zulaufen. Die Einladung, als Gast am Abendmahl teilzunehmen, könnte ein Element auf dem Weg zu einer Mitgliedschaft sein.
Evangelisch sein wird sich womöglich zusehends stärker als Prinzip denn als Identität einer soziologisch fassbaren kirchlichen Großgruppe realisieren. Das bedeutet: Die Gruppe derer, die das Anliegen der Reformation und des Protestantismus weitertragen, wird nicht einfach identisch sein mit Varianten evangelisch-kirchlicher Verfasstheit. Kirchen werden offener dafür, auch Menschen aus anderen Kirchen mit Verantwortung, auch Leitungsverantwortung zu betrauen.
Trend 5: Die Wahlgesellschaft spiegelt sich auch in der Kirche wider
Anstelle von (oder zusätzlich zu) geographisch geprägten Zugehörigkeitsmodellen werden Angebotsstrukturen entstehen, die stärker als heute von einer Wahlsituation bestimmt sind. Man gehört nicht einfach einer Kirche an und nutzt deren Angebote. Vielmehr bedient man sich in Auswahl der vorhandenen geistlichen Angebote, ohne Scheu, diese auch mit anderen Angeboten zu kombinieren.
Trend 6: Ressourcen und Räume werden mit anderen geteilt
Die Kirche wird vielfältiger in ihren Angeboten, auch der Angebote in ökumenischer Trägerschaft. Das Stichwort dazu heißt – schon länger – „arbeitsteilige Ökumene“. Ökumene heißt dann noch viel weniger als heute, bestimmte Dinge gemeinsam tun. Vielmehr ist der eine stellvertretend für den anderen auf einem Feld aktiv.
Räume werden nicht nur als Eigentum oder ständiger Anmietung genutzt. Bestimmte werden nur zu den Zeiten angemietet, zu denen sie benötigt werden. Ansonsten werden sie anderweitig genutzt. Eigene kirchliche Räume werden zu einer zeitlich genau festgelegten Fremdnutzung „auf dem Markt“ angeboten.
Trend 7: Kirche und Glauben bleiben gefragt
Der Bedarf an Spiritualität, Glauben und an Orientierung in einer nüchternen und von materialistischen Werten bestimmten Welt wird nicht abnehmen. Zu welchem Anteil dabei die Kirchen in Anspruch genommen und nachgefragt werden, hängt auch davon ab, wie glaubwürdig der Spagat zwischen Zeitgenossenschaft auf der einen Seite und kritischer Reflexion des Zeitgeistes auf der anderen Seite gelingt. Das Gespräch mit anderen Religionen wird unverzichtbarer Bestandteil des eigenen Selbstverständnisses werden.
Womöglich werden sich theologische Grundmuster ändern. Hier gibt es eine Vielzahl einander widersprechender Voraussagen: Die einen gehen von einer zunehmenden Bedeutung charismatischer Formen des Christseins aus. Weltweit ist das unbestritten. Andere sprechen davon, dass den mystischen Formen des Glaubens die Zukunft gehört. Auch daran mag viel Richtiges sein. Aber auch dies wird nicht alle in gleichem Maße betreffen. Viele andere verweisen darauf, dass Kirche und Theologie viel stärker in der Lebenswelt der Menschen verortet sein müssten als bisher. Die Milieu-Studien haben ja gezeigt, dass derzeit die Mehrzahl der Milieus von den Kirchen gar nicht mehr erreicht werden.
Ich vermute, dass wir im Jahre 2044 eine viel stärkeres Nebeneinander ganz unterschiedlicher Theologien und Formen von Kirchlichkeit haben werden. Dies muss gar nicht von vornherein schlecht sein. Aber natürlich ist damit eine noch größere Unübersichtlichkeit verbunden. Daran knüpft sich dann auch die Frage, wie diese unterschiedlichen Formen von Theologie und Kirchlichkeit organisatorisch zu verknüpfen sind.
Folgerungen und Wünsche
Wie die Kirche der Zukunft wirklich aussieht, können wir nicht wissen. Was uns aber für die Kirche, auch die der Zukunft wichtig bleibt, das habe ich in sieben Wünschen zusammengefasst.
Wunsch 1
Die evangelischen Kirchen mögen für ein Ökumene-Verständnis werben, wie es in der Leuenberger Konkordie seinen sichtbaren Ausdruck gefunden hat. Auf diese Weise könnten wir einen weitreichenden theologischen Durchbruch schaffen, weil derart die Möglichkeit der gemeinsamen Feier des Herrenmahls nicht bis zur Durchsetzung der kirchlichen Einheit warten muss.
Wunsch 2
Die Kirchen mögen sich noch weitaus stärker als bisher zu Kirchen entwickeln, die nicht ängstlich ihre Defizite beklagt, sondern ihre Stärken öffentlich macht und zugunsten der Menschen einsetzt. Dazu gehören unter anderem: Raum für die größtmögliche Weite der Freiheit eines Christenmenschen: theologisch, politisch, sozial.
Wunsch 3
Die Kirchen mögen sich weiter insbesondere den Gruppen verpflichtet fühlen, die auf das stellvertretende Handeln anderer angewiesen sind. Menschen unter Bedrohung, Menschen in Ängsten, Menschen in Verhältnissen der Armut und des Hungers, Menschen, die den unterschiedlichsten Formen der Unterdrückung ausgesetzt sind. In Form des diakonischen Handelns als eigene Gestalt von Kirche wird sie in besonderer Weise als glaubwürdig wahrgenommen. Kirche muss diakonische Kirche bleiben oder wieder neu werden, wenn sie Kirche bleiben will.
Wunsch 4
Die Kirchen mögen die Freiheit eines Christenmenschen und die hohe Würdigung der Taufe als Grundlage des Priestertums aller in das ökumenische Gespräch einbringen. Die grundlegende Bedeutung der Taufe ist ein großes Pfund auf dem Weg zu mehr ökumenischer Gemeinsamkeit, mit dem wir gemeinsam wuchern sollten.
Wunsch 5
Die Kirchen mögen zusehends und zunehmend einen offenen Kirchenbegriff profilieren und in das ökumenische Gespräch einbringen. In Folge der Reformation haben sich verschiedene kirchliche Traditionen herausprofiliert, die jeweils in vollem Sinn Kirche sind und die sich ökumenisch partnerschaftlich aufeinander zu bewegen können, ohne die eigene Identität aufzugeben.
Wunsch 6
Die Kirchen mögen Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden lernen. In ihren Verfassungen, Arbeitsformen und der Gestalt ihrer Angebote, auch in den Fragen, die als drängend diskutiert werden, mögen sie sich mutig – mutiger womöglich als heute – bei den Angeboten ihrer Umwelt bedienen. Mit ihrem Glauben an den einen, menschenfreundlichen Gott, der sich uns in Jesus aus Nazareth zu erkennen gab, mögen sie aber auch eine bleibend unterscheidende, fremde, weil nicht den allgemeinen Trends zugeneigte Botschaft bewahren und kommunizieren, die Menschen Sinn und Halt zu geben vermag. Den „Überbau“ können wir umgestalten, weil das Fundament tragfähig bleibt.
Wunsch 7
Die Kirchen mögen nichts von ihrem dreifachen Auftrag zur Disposition stellen: dem Auftrag der tröstenden Zuwendung zu den einzelnen (Gottesdienst und Seelsorge), dem Auftrag, sich für gerechtere Strukturen in dieser Welt einzusetzen und Menschen in Not zu unterstützen (Diakonie); dem Auftrag, die Botschaft von der Freiheit auch in Bildungsprogrammen Gestalt annehmen zu lassen.
Traugott Schächtele war von August 2010 bis März 2023 Prälat für den Kirchenkreis Nordbaden, im Jahr 2012 wurde er zum Honorarprofessor der Evangelischen Hochschule Freiburg ernannt.
