Dostojewski und der Römerbriefkommentar

Berlin. Der Einfluss Fjodor Michailowitsch Dostojewskis vor allem auf die zweite Auflage des Römerbriefkommentars von Karl Barth ist in Fachkreisen bekannt. Ausgehend von meinen Gesprächen mit meinem früheren Musiklehrer Werner Boll in Eppelheim beschäftige ich mich nun mit den Zusammenhängen.

Von Frank Bürger

Wir saßen in Eppelheim im Wohnzimmer. Mehr will ich privat nicht verraten. Mein einstiger Musiklehrer am Schwetzinger Hebel-Gymnasium, wo ich mein Abitur machte, nahm sich danach die Zeit, sich über vieles Theologische auszutauschen. Er hatte Karl Barth in Basel während des Studiums persönlich kennengelernt. Derjenige, der mich ermutigte, Theologie zu studieren, war Werner Schellenberg, langjähriger Dekan des damaligen Kirchenkreises Oberheidelberg. In Schwetzingen gab es 2019 eine Ausstellung zu dem Schweizer theologischen Riesen, der ohne Doktortitel und ohne Habilitation an die Universität berufen wurde. Bath war in Basel geboren und starb ebenda. Eine bedeutende Stadt, die damit zum Zentrum der dialektischen Theologie wurde.

Ab 1911 engagierte er sich als radikaldemokratischer Sozialist. Ab 1914 brach er mit der deutschen liberalen Theologie seiner Lehrer, die den Ersten Weltkrieg unterstützten. Mit seinen Römerbriefkommentaren (1919/1922) begründete er die Dialektische Theologie. 1934 verfasste er maßgeblich die Barmer Theologische Erklärung, begründete die Bekennende Kirche mit und rief ab 1938 alle Christen zum auch bewaffneten Widerstand gegen den Nationalsozialismus auf.

So fing es an: Der 1. Weltkrieg ist zu Ende. Im Sommer 1919 werden die Verhandlungen zum Friedensvertrag von Versailles abgeschlossen. Im Deutschen Reich ist nichts mehr wie es war. Revolution! Arbeiter- und Soldatenräte sind der Ausdruck eines neuen politischen Willens – nicht widerspruchslos. Die Parlamentarische Versammlung tagt in Weimar, weil Berlin zu unruhig ist. Da lädt eine Gruppe engagierter und interessierter Pfarrer zu einer Tagung, nach Tambach, Thüringen, ein. Sie wollen überlegen, ob nicht auch im Deutschen Reich die Bewegung der Religiösen Sozialisten, wie es sie in der Schweiz gibt, gegründet werden soll? Karl Barth ist mit seinem Vortrag „Der Christ in der Gesellschaft“ eingeladen. Dieser Vortrag irritiert die einen und setzt andere in Bewegung. Noch lange hallt er nach, wie eine Fanfare. Aus Karl Barths Nein! zu der so selbstverständlichen Verknüpfung von „abendländischer“ Kultur und Christentum entwickelt sich in den folgenden Jahren die sogenannte „Dialektische Theologie“. Werner Schellenberg hat bei Karl Barth, der als Kirchenvater des 20. Jahrhunderts gilt, studiert

Quelle: VHS Schwetzingen

In Gesprächen mit Pfarrer i. R. Dr. Lorenz Wilkens kristallisierte sich das Thema heraus: Der Einfluss Fjodor Michailowitsch Dostojewskis vor allem auf die zweite Auflage des Römerbriefkommentars.

Es ist bekannt, dass das Werk Dostojewskis in der Frühzeit der dialektischen Theologie eine große Rolle gespielt hat. Die Dostojewski-Studie Eduard Thurneysens – in erster Auflage 1921 erschienen, mehrmals nachgedruckt und in verschiedene Sprachen übersetzt, erregte zu Beginn der 20er Jahre grosses Aufsehen. Wie Karl Barth in einem Brief im Dezember 1921 schrieb, wurde das Büchlein von den damaligen Göttinger Theologiestudenten „gierig gelesen“, und die zeitgenössische Kritik bezeichnete es als eine „geniale Leistung“;
Thurneysen schreibe „gewaltig und nicht wie die anderen Literaturkritiker und Literaturschnüffler, die aus Mangel an Kongenialität
niemals in den Geist des Dichters eindringen“ könnten. So beschreibt es W. Hadorn.

Dem Urteil Hadorns kann man leicht beipflichten, wenn man Thurneysens Buch mit den verschiedenen Dostojewski-Interpretationen aus dem Beginn der 20er Jahre vergleicht, in denen Dostojewski von der damaligen liberalen Theologie her gedeutet oder gar für die liberale Theologie vereinnahmt wurde. So wurde das intensive Fragen nach Gott, wie es bei vielen Gestalten in Dostojewskis Romanen zum Ausdruck kommt, als ein Streben nach übernatürlichen, bleibenden Ideen beurteilt, Dostojewski als einen großen Bejaher Gottes und der christlichen Tugenden, vor allem der Nächstenliebe gedeutet und in Dostojewski der Verkünder der christlichen Lehre von der All-Liebe gesehen.

Eindruck machten ferner Dostojewskis Vorbehalte gegen das dogmatische Christentum und die Kirche, und einer der liberalen Interpreten (P. Fischer) sprach sogar sein Bedauern darüber aus, dass der russische Dichter „vom Protestantismus so gering dachte, dessen reinsten Gestaltungen er tatsächlich viel näher stand als er dachte“.

Aber ich will noch gar nicht so weit.

Gerade habe ich mich intensiv mit dem Römerbriefkommentar beschäftigt. Barth war zur Zeit der Niederschrift Dorfpfarrer in Safenwil, Kanton Aargau. Die erste Fassung erschien Ende 1918 (datiert 1919), die zweite Fassung Ende 1921 (datiert 1922). Oft bedankte er sich bei der Gemeinde, dass sie Rücksicht auf sein Schaffen, sein Denken, der sich im Briefwechsel mit Eduard Thurneysen, mit dem ich mich an anderer Stelle intensiver beschäftige.

Bereits die erste Fassung machte Barth weit bekannt. Sie gilt wegen ihrer kontrastreichen Sprachbilder und ihres aufrüttelnden Schreibstils als Zeugnis expressionistischer Literatur. Die völlig umgearbeitete zweite Fassung begründete die Dialektische Theologie, deren wichtigster Vertreter Barth in den folgenden Jahren wurde. Er vollzog damit eine Absage an die gesamte liberale Theologie seit Friedrich Schleiermacher, die das Christentum auf menschliche Erfahrung gründete, sich im Gespräch mit der Religionswissenschaft befand und die Bibel historisch-kritisch las. So auch die vielen Assoziationen zu säkularer Literatur. Und das nicht nur zum Werk Dostojewskis, sondern unter anderem bringt er Bezüge zur Freiheitsbewegung der Eidgenossen. An einer Stelle bringt er Assoziationen zum Tellsprung, den Friedrich Schiller so malerisch in seinem „Wilhelm Tell“ beschreibt.

Am Seeufer ganz in der Nähe der Tellskapelle am Urner See befindet sich eine Felsplatte, die im Volksmund auch Tellsplatte oder Tellsprung genannt wird. Hier soll der Held der Sage auf dem Weg in das Burgverliess den Sprung vom Schiff des Landvogts Gessler getan haben, sich auf die Felsplatte gerettet haben und geflohen sein. Nostalgische Dampfschiffe, mit denen Besucher im Sommerhalbjahr eine Rundfahrt auf dem Vierwaldstättersee machen können, fahren auch vorbei an dieser geschichtsträchtigen Erinnerungsstätte.

Barth wurde daraufhin 1921 in Deutschland zum Theologieprofessor berufen und entwickelte sich zu einem weltweit führenden evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Sein Römerbriefkommentar erlebte auf Deutsch bis 2005 16 Auflagen mit insgesamt 47.000 Exemplaren; außerdem wurde er ins Englische, Französische, Italienische, Niederländische, Russische, Spanische, Chinesische, Japanische und Koreanische übersetzt.

Bände füllt die Auseinandersetzung mit diesem Werk Barths. Bände füllt die Auseinandersetzung mit dem Einfluss Dostojewskis auf den größten Theologen des vergangenen Jahrhundert. Aber warum ließ später die Bedeutung des Russen auf Barth nach. Dieser Frage gehen wir auch nach. Das Buch ist ein Muss für jeden Liebhaber der Theologie und auch expressionistischer Literatur.

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